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Karl-Maria Machel
Liber Monodie oder Einstimmiger Gesang
Eine Autofiktion

Softcover September 2020
322 Seiten | ca. 14,8 x 21,0 cm
ISBN: 978-3-96014-741-1


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Schreibzeit

Nach einigen Versuchen gelingt es nicht mehr, die Wirklichkeit zu verleugnen, sage ich, der Schreiber, weil ich weiß, daß der Leser den Baum unter dem ich sitze, meine Linde, nicht kennt und den nehmen muß, den ich ihm biete. Ich schreibe also Wahrscheinliches. Hier in der ruhigen Umgebung von Lucynów Duzy, überhaupt erträgt man Langeweile nur in ruhiger Umgebung. Und dann schreibt man halt, damit keine Langeweile aufkömmt, Tagebücher kommen vom Nichtschlafen.
Und dann gibt es Gesichter, die entstehen beim Schreiben. Sie tauchen auf. Es gibt Gesichter, die sind in einem Moment nicht das, was sie in anderen Augenblicken sind. Photogene Gesichter, so nennt man das, sind solche, die in einem Moment mehr sind als in anderen.
Ich wollte etwas beweisen, schreibend, ich habe aber während des Schreibens vergessen, was es war, wohl nur, daß ich bin. Es ist nicht schön zu spüren, wie es mir während des Erzählens unter der Hand wegschmilzt. Doch ich habe meine Geschichte, sie begründet mein Verhalten Geschichten zu be- und ergründen.
Die Bedeutung der Wörter und ihre Herkunft ist eine faszinierende Sache, aber es kommt nicht darauf an. Man muß nicht wissen, was sie bedeuten, sondern, wo man sie hinstellt. So jedenfalls sieht es der Kollege Bichsel.
Der Kopf leitet die Hand und vor der Tat steht der Gedanke.
Eine Geschichte zum Verweilen, also zum Erzählen: Ich mag Geschichten. Wenn ich tagsüber schlafen gehe, dann auch deshalb, weil ich tagsüber träume. Balzacs Vater legte sich ohne jeden Grund ins Bett und stand erst nach zwanzig Jahren wieder auf. So erzählte es Benn. Das ist eine Geschichte, dieser eine Satz.
Ich schreibe. Ich bin der, der dies schreibt. Mitten im Zimmer ein Tisch, das Schreibzeug, davor ein Stuhl. Ich. Ich schreibe. Der Spiegel. Im Spiegel das Zimmer. Das Fenster. Regen. Sonne. Heiß. Ich will noch einmal und ganz von vorn anfangen. Zu einem Ende kommen... ich schenke ein Glas Wein ein.
Man weiß auch, was zu erwarten ist. Ein Januar ist zu erwarten und ein Februar, ein März, ein April, ein mehr oder weniger warmer Sommer, bestimmt ein Sommer... und am Ende des Jahres gibt es wieder einen Dezember.
Martinisömmerlein nennt man die letzten sonnigen Tage im November. Wenn ein Tag überhaupt nichts hat als seine Stunden und seine Geräusche, dann hat er als letztes, als allerletztes noch eine Witterung.
»Geliebte Julietta...« und dieser Name war beliebig, es hätte auch Gabi oder Roswitha und eben auch Veronika sein können, lang ists her, daß wir uns sahen, doch lebt in mir die Erinnerung deutlich und klar:
Laß Dich fallen in meine starken Arme, laß Dich fallen in den Gleitflug des Vertrauens und der Leidenschaft; leg Deine Lust in meine Hände, öffne die Rose...
Halten, haben und halten, ein Versprechen, ein Wort, mein Wort Dich halten mein Leben lang. Dich halten gegen das Dunkel, den Abend, die Zeit, die Angst. Dich halten und Dein Haar perlt zwischen meinen Fingern, zersiebt die Zeit und ich schließe Deine Augen, öffne die Lippen. Spüre Deinen Geschmack, Geruch nur nach Dir, immer näher, immer ursprünglicher nach Dir. Ich trinke Dich, atme Dich ein und wieder aus und wieder ein, Deinen Duft, Deinen weiblichen Duft.
Doch wir beide wissen, das Glück ist Schimäre und der sich neigende Sternenhimmel verschweigt seine nicht geweinten Tränen. Die vollkommene Stille der ungesagten Worte bleibt der Wirklichkeit verborgen und verschwimmt in den Sehnsüchten der Träume.
Die Dämmerung beginnt sich auszubreiten und wir träumen im Gleitflug des Vertrauens, „Peace of Mind“ habe ich es einmal irgendwo genannt. Hör wie die Stille tönt und nimm mich an mit offenen Armen für eine Stunde des Glücks oder auch einen Tag.
Wie ein vertrauter Weg im Dunkel der Nacht. Ein Traum von vor Äonen und der Wind weht die Ängste aus dem Laub des Vorjahres.
Ein Kuß Deines Schoßes und ich begehre mehr als Deine Wärme, mehr als Deine Stimme, für immer und länger; und noch länger die Sehnsucht in mir. Der Blick aus den Augen, die mich verwirren, meine Nacht erhellen und ich seh den Wind in Deinem Haar. Worte echoen die Sonne in meine Welt; Worte, die ich schwieg, während ich sie schrieb schon.
Du weihtest mich ein in die Farben dieser Welt, die sterben, wenn ich Dein Gesicht verlier. Laß mir die Farben des Himmels, laß mich nicht vergessen den Kuß, nicht vergessen die Wolke. Sie blühte nur Minuten und als ich aufsah, schwand sie schon im Wind. Laß mir die Farben des Grases, des frisch gemähten Grases, sanft zersaust duftend, zart feucht, gekräuselt wie Dein durchliebtes Charmehaar in meiner Erinnerung. Dein Paradies, das mir niemand nehmen kann, bis Vergessen sich auf meine Sinne legt.
Laß mir die Farben der Rose und ihren Duft, wenn morgen die Gräser andere Farben tragen und das Fenster des Zuges Zeit Dein Bild davontragen wird und mir nur die Tränen zurückläßt.
Allein nach all der schönen Zeit, allein...

Müde vor Sehnsucht verträume ich dann den Tag, denke an blaue Himmel, ans Meer und an rauschende Bäume, an die Ewigkeit Deines brandenden Blutes und die Wärme Deiner Haut. Und es wächst meine Liebe, eh mein Leben sich verliert; laß mich diese Welt erträumen für die Ewigkeiten, die sich uns versagen.
Ich trink aus den Seen Deiner Augen, und lieber noch an der verschwiegenen Quelle Deines Waldes, wo meine Zunge sich dem Paradies verspricht und Dir goldne Träume winken, laß meine Lippen ganz in Deinem Schoß versinken...
Im Frühling, wenn die Bäume knospen; im Sommer, wenn ein blauer Himmel blüht; im Herbst, wenn die Farben erwachen; im Winter, wenn das Jahr stirbt, in Richtung der Wendemarke, um die sich das weiße Rauschen der Zeit mit Engelsschwingen dreht.
Und dann heimkehren mit den Händen voller Licht. Im Frühling, wenn zartes Grün sich zögernd vorwärts tastet; im Sommer, wenn die Sonnenglast uns dösend umfängt; im Herbst, wenn die vollen Früchte reifen; im Winter, wenn der weiße Mantel jeden Laut erstickt. Und dann ist es nicht mehr der Atem von gestern, der mich beflügelt.
Denn der Sommer streut sein warmes Licht und weht mir farbige Träume zu. Ich schmecke die Tage, die ziehen, sehe die Wälder im Sonnenlicht, die wir Hand in Hand durchstreiften. Ich denk an den Duft Deiner Haare, die ein mildes Licht mir malte; an den Duft Deiner Haut, über die der Wind atemlos strich; an den Glanz Deiner Augen, wenn unsere Blicke sich trafen. An den Duft Deiner Rose, wenn die Nächte uns allein gehörten.
Und dann möchte ich noch einmal, noch ein einziges Mal mit bloßen Füßen mit Dir über eine Wiese laufen und rufen: “...laß uns eine Wolke fangen...”; Hand in Hand noch einmal auf der Chaussee zwischen den warmen Feldern die Sonne heraufrollen sehen. Und nun den Hauch der Ahnen endlich verstehen; das Wesen der Dinge erlauschen, die Seufzer in Busch und Baum und Feld. Im Rauschen und Murmeln der Bäche den inneren Klang der Dinge erkennen, erleben. Und es erwachte durch Dich der Wunsch es zu beschreiben, festzuhalten für die Ewigkeit. Auf das wir es mit uns fortragen in die Ewigkeiten die noch vor uns liegen. Und die uralten Lebensnerven des Schreibtisches zu erkennen und zu respektieren und Dich trotzdem oder vielleicht gerade deswegen zu lieben, das ist es, was mein Leben so reizvoll und einzigartig macht. Mein Leben voller Lieben und Schreiben.
So komm denn, knie über mir, oh dürstende Wildnis und ich trinke Dich; trinke von Deinem unkeuschen Quell. Spiegle in Deiner Tiefe mein leidenschaftliches Bild und spüre meine Seele durch Deine Finger rinnen...

Hunger der Haut, Hunger der Seele, es ist wie wenn ein Fragment eines zerrissenen Liedes in haltloser Lust verklingt, wie ein feuchter Kuß des Windes auf den Lippen. Die Wolkennacht sieht uns zu, breitet Lust über unsre nachthungrigen Seelen, die heimatlos wie das Glück. Grenzenlos die Sternennacht; Blumen schweigen, duften, ich hielt oft die Last ihrer Düfte...
Verewigt Du, auf Buchseiten, doch nichts kann Dich hindern zu gehen. Vorüber wehen Nacht und Sterne. Sag ihnen, daß wir nur flüchtig leben und nie zurückkehren, dorthin, wo wir dereinst glücklich waren, wenn die Zeit verklingt wie das flüchtige Leben.
Und auf der Treppe meiner Worte komm ich Dir entgegen, verfolge Dich mit meinen Zeilen und rufe Dir nach: “Ich werde bleiben, zurückkehren und... vergessen..., und werde welken mit jedem Blatte.” Am Rande des Horizontes werde ich Dich riechen, Deinen Duft, Deinen weiblichen Duft, und werde erstarren vor den Steinen, die ewiges Schweigen erfüllt über Dich, Dich ewig neue, Dich immer andere Liebe...
Und ich sehe Dich, geh Dir entgegen, doch die Entfernung nimmt zu. Meine Blicke greifen nach Dir, nach dieser einen Nacht am Abgrunde der Welt. Erst die erschlaffende Umarmung befreit vom Schmecken und Fühlen. Ich kenne Deine Süße und Deine Leidenschaften...
Am Himmelsfelsen hinter dem Horizont werde ich auf Dich warten, den Wink Deiner Lider ...und die Flut des brandenden Blutes zwischen uns. Ich friere im Warten auf Dich, hör Deinen Atem, der Worte schreibt in die Luft.
Unsere Pfade führen zu verwunschenen Orten, wildes Gesträuch wuchert am Rain; hier wachen die Augen im Schlaf, liegen nackt im langen Dunkel, daß in der Landschaft spiegelnd verweht.
Nur mein Blick gab Dir Schönheit; mein Blick, besprengt, benetzt vom Wein Deines Körpers. Wie eine Empfindung der staunenden Haut, in der Umarmung, warm, sündig und feucht und schön... und unsere Entfernung schwand zu unendlicher Nähe.
Dein Weg berührte meinen Körper, wo immer ich auch war; raubte mir Schritte, Spuren, die ich prägte und mir bleibt nur das Wort, wenn mein Zunge niemals Dich durchdringt mit absolutem Atem, unendlich lang in der Leidenschaft, im Geschmack Deines Schoßes.
So nimm denn meinem Mund das Verschwiegene, errichte die Landschaft aus den Zweigen der Worte, aus den warmen Tropfen des Schlafs. Zusammengeschmiegt, verirrt in Dir, betrinke ich mich an Deinem Munde, zerleck ich Deinen Schoß und weinwarm fällst Du über meine Zunge her, trink ich Dein schäumend Speichelmeer...
...und meine Stille beschnuppert verstohlen die Nacht...
Oja, dafür liebe ich ihn... wußte sie.

„Ein wenig schwülstig“, dachte er nun, dann fiel ihm Julia ein, für die er den Text geschrieben hatte und der doch auch auf viele andere paßte: Die Liebe ist wohl immer gleich, hirnphysiologisch gesehen. Der Psychologe wußte das, erahnte es zumindest.
»Reminiszenz an Rot, an Julianen, einer alten schönen Freundin gewidmet •• Die Melodie des Lichtes Deiner Augen • als Farbe unsrer Begegnung • in Deinem Haar • Die Schwingung Deines Parfums • umspielt den Atem Deines Lächelns • läßt mich träumen • in den Klängen des Tages • und den Wünschen der Nacht...« und die waren köstlich gewesen, göttinlich wie das Weib.
Eine wohlproportionierte Rotblondine mit keßlockerem Mundwerk und süßlockeren Sprüchen, die beim Kellner ein Baguett Camelia extrabreit bestellte. Und es war eine unbeschwerte Zeit gewesen, „Mein Gott, was hatte das Luder für einen köstlichen üppigen kallipygotischen Hintern... und ein himmlisches Lachen.“
Eigentlich weiß niemand den Wert eines weiblichen Hinterteiles richtig zu schätzen: Es ist ist warm und weich und kuschlig, man kann sein Näschen darin bergen, es schmeckt und es duftet fruchtig und birgt weiter vorn einen süßen köstlichen Quell, der sich nach der Entdeckung einer Zunge sehnt. Ja, manchmal toben dort heftige warme Winde, die duftreich sind, manchmal toben dorten im Urwald gar heiße salzige Quellen, die ein Mann durchschwimmen muß, doch immer, immer ist es dort schön; das einzig Paradeis auf Erden, das zur Katharsis führt...

Meine unendlich ferne Prinzessin... von mir getrennt durch Zeit und Raum...
Dieser Text war ihm in die Hände gefallen als Vero ihn verließ, er erinnerte sich und einige Tränen klopften an seine Lider.
Schwer wie der Welt Sünde ist die Erinnerung, die ich an Dich hatte; unerträglich leicht ist jene, die ich an Dich habe. Denn tief in mir ist etwas, das ich nicht zu deuten weiß. Gefühle tragen uns fort an Orte, die nicht von dieser Welt sind, nicht in ihr sind.
Das kleine Boot Einsamkeit, beladen mit der Trauer der Seelenwelt treibt ruderlos durch den Ozean meiner Erinnerung, es wird verschlagen an die Gestade des Hoffnungsarchipels, bis die Sonne sinkt; das Labyrinth voll Nacht, welches uns gnädig die Verwirrung schenkt, die der Geist wohl braucht um endgültig zu veröden. So verlieren wir uns selbst im Schlaf, dem Quell der Träume und jene Gefühlslandschaft, die wir zu erträumen wagten, liegt verlassen.
Der Schlaf, es war wie ein tieferes Vergessen, ein Hinabsinken in die Gegenstandslosigkeit dieser Welt, ins Nichts, das jedem Menschen innig und heilig sein sollte. Und der Schlaf ist heilig. Der Schlaf, auch die Erschöpfung aus der Gegenwart, das Verlassen der Zeit, Kontrollverlust, zugegeben, das Hinter-sichlassen der Bedeutung, eintauchen in das Vage, und natürlich das Träumbare. Das Geradnochvorstellbare, und damit ErTräumbare, das Erinnerbare von Tagesgeschehen und doch mehr oder weniger Gleichgültige, das Einerlei der Lebenstage und darin die erinnerbaren Höhepunkte, die Lust zu leben, und all das wollte, mußte verarbeitet werden, der Sinn des Schreibens, des Erinnerns, und dann Lethe, das Wasser des Vergessens, auf das es einen nicht mehr belaste, das alles gegenstandslos würde. All das was das wohltuende Herabsinken in die Gegenstands-losigkeit, die Erinnerungslosigkeit, das nicht mehr da sein, das auch nicht mehr da sein müssen. Das Nichts, das uns jede Nacht umfängt, schützt, nützt, ist nur für uns. Was brauchen wir mehr?
Wir erinnern uns liebevoll der friedlichen Tage, als die Sonne noch schien, die Bäume noch wuchsen und die Nächte so warm waren, wie der Druck Deiner Hand. Die Uhren vertickten langsamer die Zeit, die einmal uns gehörte; die nun ruht unterm Scherbenhaufen zerbrochener Zuversichten, wie Blumen, die sich nicht mehr gegen den Regen auflehnen.
Es war einmal eine Leidenschaft der Lust, eine Lust der Leidenschaft, die bald nach ihrer Geburt verebbte. Wie groß ist der Anteil des durchlebten Leides... Lebensgefühle sind einsame Schmerzen, die sterblichen Zerstörer, die tief im Innersten ruhen.
Doch die Räder des Zuges Zeit rollen weiter, unbekannten Zielen entgegen; in ferne Zeiten, die auch für uns unerreichbar im Nebel der Zukunft verborgen, wie unsere Erinnerung unerreichbar nie wieder Gegenwart wird... und es ist schade, liebes Jahrhundert...
Und doch, im Herbst der Gefühle weht der Wind tote Blätter in meine Tränenpfützen. Zu lang hab ich mich tragen lassen von Gefühlen, das Wasser fließt doch immer zur tiefsten Stelle, dort, wo nun die Blätter ruhn.
Verlieren wir nicht viel?
Doch, wir verlieren die Gegenwart.
Ich beschreibe sie, durchleide sie, erlebe sie, und das unsägliche Gefühlsganze, das unerträglich leichte Zeitganze, doch der Herr der Zeit ist der Herr der Angst, wer ist dann Gott?...
Und welche Metapher ist die Liebe, die für uns geboren wird, das Symbol für die unerträgliche Leichtigkeit eines Seins, das wir uns wünschten? Wer wünscht uns ein Sein, eingesponnen in den Kokon Zeit, den die Spinne Tod gebiert?
Und doch liebe ich Dich für Dein Angesicht, das für mich alles ist und weiter nichts, eingesponnen im selben Kokon Traum, der doch die Zeit beinhaltet und dem Tod die Leben schenkt.
Doch Deine Augen zeigen Trauer, Deine Augen voller Träume zeigen Trauer, wer nahm sie Dir, die Träume, nahm Dir das Leben aus der Hand? Im Kerker der Vergangenheit verharren wir weiter dem Unerschließlichen entgegen...
Unerträglich ist nur das Bedauern, die Splitter der Gedanken, sterblich und willig im Abschied nach jeder Umarmung.
So sieh Dich nicht um, schnür Deinen Schuh, jag die wilden Träume zurück, die der Wut nur zollen, denn ich war weder der Beginn Deines Alters, noch der Rest Deiner Jugend. Ich war Dein Hier und Jetzt, die Gegenwart, die nun verlöscht. Warum sollte meine Sehnsucht Dir etwas bedeuten, wenn Verona der Sonne im Weg steht und sterbendes Gras in der Wärme eines sich neigenden Tages sich zum letzten Atemzug ausduftet, verduftet...
Sag niemals nie, denn alles beginnt jetzt und hier, im Gestern schon. Zuerst habe ich mich verliebt in den Glanz Deiner Augen, nun liebe ich auch Dein Weinen, wenn wir gehen. Das Leben wäre wohl einfacher, hätte ich Dich nie gekannt, aber es wär wohl ärmer auch und ganz einfach nicht mein Leben... spurlos bleibt nichts...
So lauf denn los, gegen den Wind, breite Deine Arme zum Abschied und ruf: “Laß uns eine Wolke fangen...”
Alles beginnt und alles endet zur richtigen Zeit am richtigen Ort!
Und erinnern wir uns der göttlichen Stunden...
...ruf unsre Namen zärtlich in den Wind der Zeit...
Dein Dich ewig liebender...«

Darin waren mehrere Frauen eingeflossen, Vero und Eira kannte er da noch nicht, er ließ ihre Gesichter Revue passieren, versuchte sich Geruch und Stimmen in Erinnerung zu rufen. Das eine oder andere Gesicht tauchte auf, Stimmen klangen an und Erinnerungsbilder tauchten auf; ein Reigen entspann sich. Er schaute aus dem Fenster, der Reigen löste sich auf, viel zu schnell, dichtbebautes Großstadtgebiet, trocken, kalt, grau.
Hannover flog vorüber und die Sonne half ihm sich zu erinnern, wie spielte sie damals in all ihren Haaren... Frauen hatte er immer geliebt.

Er war damals in Lucynów gewesen, bei der Malerin, die nun in Lemgo lebte. Damals wohnte noch Mewas jüngste Schwester hier, Izabella Maria, das Nesthäkchen der Familie. Sie war auffallend hübsch. Ein schönes Gesicht mit sinnlichen Zügen und dichten schönen runden Augenbrauen. Leider reichlich verzogen, wie alle Nesthäkchen. Leicht narzißtische Persönlichkeitsstörung hätte er nun diagnostiziert, wenn er dienstlich hiergewesen wäre. Doch er war nur da, Mewas Hausstand einzusammeln, nachdem sie in Lemgo einen Schriftsteller geheiratet hatte.
Nun, und sie, Izabella, war nicht nur narzißtisch, sie mußte sich spätpubertierend immer in den Vordergrund drängen, sie war zudem mit einer ziemlich durchschnittlichen Intelligenz gesegnet. In Relation zu ihrer Schwester also eher schlicht. Er nannte sie irgendwann Doofmarie, das hatte er irgendwann irgendwo bei Moers gefunden, eine Anspielung auf Pechmarie, die ihm zusagte.
Nun, und das höchste Ziel dieser Doofmarie war es zu heiraten, wie es bei vielen Polkas wohl ein Lebensziel ist und war. Diese Heiraten erfolgten recht früh, das Lebensziel ist erreicht und man kann getrost alt werden. Daß noch gut fünfzig, sechzig Jahre Lebenszeit vor einem liegen, wird im Angesicht dieses Zieles nicht mehr realisiert. So auch bei ihr, und Johannes hatte heimlich ein Gedicht geschrieben, damals:
»Sich freien • statt Ich bin Ich weiß • Ich will zu sagen und lang noch • nicht des Habens müde • So öde das Lächeln und aufgesetzt das Gesicht zur Maske • wenn Dummheit zur Gewohnheit • wird So öde das Leben... • Undenkbar in ihr erklängen • Worte von meinem Munde... • und so spielt sie ihre Rolle • nichtwissend daß sie nie Regie führte«
Nun, heute lebte sie in Kanada, hatte zwei Kinder und ihr Leben verlief in mehr oder weniger geordneten Bahnen. Sie hatte ihren Lebensinhalt gefunden. Kinder versorgen, ihrem Beruf als Kotzmetikerin nachgehen und Erfüllung darin finden andere kleine zurückgebliebene Geschlechtsgenossinnen für den täglichen Lebenskampf, oder -krampf, den sie gegeneinander führten, zu maskieren.
Frauen schminken sich für Frauen, nur sind sie halt keine, nur große kleine Mädchen. Soweit die Geschichte von Mewas kleiner Schwester.
Sie, Mewa, hatte ihn, Johannes, eingeführt in die polnische Literatur und Malerei. Ihm die Augen geöffnet für die slawische Melancholie. Und sie waren bis heute Freunde geblieben. Ihr hatte er viel, sehr viel zu verdanken.
Johannes grinste auf, es folgte tatsächlich noch eine Spielerei für Mewas Schwester:
»An Doofmarien. • moralisch ge • sehen ist sigh! • sogar bLond • D perversfekte • BeFRIDIGung!« Ein reizendes Wortspiel befand er nun, nach Jahren.
Da war also wieder die Schwester der Malerin, wieder drängte sie sich also indirekt in den Vordergrund. Damals spielte er noch gern mit Buchstaben um die Worte zu zerlegen und einen gewißen Sprachwitz herauszukitzeln.
Anschließend las er den guten Herrn Amendt, der leider nicht mehr unter den Lebenden weilt, er starb bei einem Autounfall, zu Ende, ein spannendes Buch, befand er und ein gutes Stück Zeitgeschichte. Auch wenn man manchmal eher Gemüse war und auf Drogen keinen Wert legte.
Er erinnerte sich weiter, ein Gedanke gab den nächsten. Allzubald kam auch die Hankafamilie, um sie für Mewas Ausstellung in Warschau einzusammeln. Sie fuhren mit ihnen gen Warschau einem Gewitter und bleigrauem Himmel entgegen, das sich prompt entlud, als sie dem Auto entstiegen. Sie retteten sich schirmlos also ins Art Bem und beobachteten das Naturschauspiel; und Eira fragte Johannes, wie sich die Ur- und Vormenschen, oder allein schon unseren direkten Vorfahren in derartigen Situationen gefühlt haben mochten: Den Unbilden der Natur einfach ausgeliefert. Doch sie beide nutzen den allgemeinen Dämmer und stibitzten einen Filmband über Eric Rohmer, leider auf Polnisch, doch eben besser als nichts und gar kein Honorar für die Eröffnungsrede. Dann lud Radio art.bem Mewa zum Interview, live. Wer nun einen richtigen Radiobetrieb auf Ultrakrótkifalowe oder wie das heißt, erwartet hatte, fand sich maßlos enttäuscht. Kein Sender, ein Internetradio, eine Spektakelkiste, eigentlich ein totgeborenes Kind, wenn keine Bilder übertragen werden. Nun, die Zeit wird es zeigen. Die jungen Leute hatten nicht wirklich Ahnung und Mewa erhielt eine DVD mit Audiostrom in einem unbekannten Datenformat, Johannes erkannte es als Audacityformat, “Wenigstens etwas...” knurrte er. Wenn auch übergroß.
Anschließend wurde die Ausstellung, hier wystawa geheißen, um Achtzehn Uhr dreißig eröffnet. Eirene hielt die Rede in deutsch und versuchte sich zum Teil im Polnischen und kam auch offenbar recht gut an; es scheint sprachliche Faktoren in Mimik und Gestik zu geben die wirken, auch wenn man der Sprache nicht ganz so kundig ist...
Eigentlich war nur die gesamte Familie anwesend, dafür aber wirklich die Gesamte und einige Freunde und Interessenten; alles in Allem war die Ausstellung recht gut besucht. Denoch war Johannes froh, als alles vorbei war: Leute, mit denen man durch die Sprachbarriere nicht sprechen konnte und die auf Penglisch radebrechten und Leute, mit denen man nicht kommunizieren wollte... Johannes freute sich aber über den Besuch von Irena F. und ihrem Direx, auf Agi mit Sippe, Ewa, die sich permanent umdrehte, wenn er sie ablichten wollte; bis er ihr sagte, sie sähe auch von hinten dufte aus, und natürlich über Pani Inka, ihre Kollegin, die offenbar schönsten Augen Warschaus, schön traurig und groß und blau. Er hätte ein Gedicht über sie schreiben können, fühlte er, das müßte mit dem Himmel und Blau und Grau zu tun haben, er hatte aber leider keinen weiteren Kontakt mit ihr...
Sybille, Mewas Tochter war auch nicht sehr gesprächig, um KKK, soll heißen um Doofmarie machten er und auch Karl Maria einen großen Bogen, ebenso um den Rest der Familie Zapiekanki oder wie die Idioten alle hießen; wir haben uns ohnehin nichts zu sagen. Doofmarien kaufte sogar ein Bild; meinetwegen, wenn sie bezahlt... dachte er sich, soll Karl Maria nachher die Schulden eintreiben. Doch viel gab es eigentlich nicht zu erzählen, sechs Bilder hat die Künstlerin verkauft, jedenfalls wenn alle dazu stehen und auch bezahlen. Wenigstens das hatte sich gelohnt. Und natürlich, das Johannes seine Eirene wiedergesehen...
Johannes hatte auch Barbara S. wiedergesehen, die ihn vor über fünfundzwanzig Jahren vernaschen wollte, auch heuer wird es ihr nicht gelingen... wußte er und freute sich diebisch; häßlich und fettleibig laberte sie ihn mit einem ekligamerikanischen Penglisch zu, viel zu anstrengend und er hörte nicht einmal mehr halb zu. Sie lud alle auf Mittwoch ein, zu einem gemeinsamen Abendessen. Johannes wollte sich überraschen lassen und sagte zu, einen Tag, Donnerstag, später wollte er dann ohnehin mit Eira nach Krakau aufbrechen, zu ihrer Wirkungstätte.
Doch viel gabs wirklich nicht zu berichten: Auf dem Rückweg kehrten sie in einem Nighthawks ein, um mit Hopper zu sprechen, aßen dort relativ günstig Schnipsel und Reis mit ohne Soße und Gemüse. Nicht gerade gut, aber günstig. Es dient ja nicht dem Genuß, sondern nur dem Stoffwechsel... So ist das in Polen. Zum Kacken wirds reichen, sagt man in Bayern.
Zurück in Lucynów Du¿y gab endloses Gelaber und, heuer zum Glück, endloses Getrinke mit Stickstoff und Henryka. Es wurde mittlerweile gegen Zwei Uhr morgens und die laberten immer noch. Johannes wollte mit Eira morgen mit dem Empfänger weitermachen, schließlich hatten beide Urlaub. Und auch ihre köstliche Liebe durfte ja nicht zu kurz kommen.
Doofmarie wollte ihr Bild bezahlen und Karl Maria fände es dufte, morgen mit den beiden Dorfschönheiten Danuta & Bozena von ein Haus weiter, einen Grillabend zu machen. Soll heißen: “Mal schauen, was der Tag bringt...” ließ er sich entlocken. Beide beschloßen also noch ein Bierchen trinken, unter Schreibern und dann zu ihren warmen Weibchen in die warmen Bettchen zu krabbeln.
Das Bierchen und der Wodka waren bald genascht und beide trennten sich mit dem gleichen unabgesprochenen Satz, der sie zu nächtlichem Gelächter und einem weiteren Schlürschluck reizte: “Danke, das Du mitgekommen bist!”
Und er, Johannes fühlte sich hier in Lucynów Du¿y recht wohl: Schreiben, Lesen, Funken, oder wenigstens hören, Lieben und Schlafen... was bitte will man(n) mehr? Nahe der Perfektion ist das Leben im Urlaub, mochte er heute nacht niederschreiben.
Er saß also hier am Schreibtisch und lauschte und ließ die Zeit, die unendliche Freundin, verticken, ein paradiesischer Zustand. Was wollte er denn mehr vom Leben?
Er dachte nun an Celi, sie kannte die Wasserwege der Brunnen zwischen Lucynów Du¿y und dem Eichhoff. Und Johannes saß und eine Szene baute sich vor seinem Inneren Auge auf.
»Beide reden indes von Eichstätt und von Knoop, wenn die beiden ehelichen, bis sie beschließt ein Machtwort zu sprechen, Celi steht dicht neben ihr: “Eichstätt von Knoop, das klingt interessant... Johannes Karlmann Eichstätt von Knoop. Punktum! Gehörst sowieso mir. So schreibt man heute Geschichten!, und unsere ist ohnehin die interessanteste: Sex & Crime, doch mit dem Kreim und dem Driller laßen wir uns noch etwas Zeit, geeignete Opfer gibts nur in Politik und Großfinanz. Aber dann bestimmt und tüchtig bestialisch. Ein Stück ist erst zuende, wenn es die schlimmstmögliche Wendung genommen hat...”
“FÄ läßt grüßen...” lächelte Johannes still über seinem Reisetabu.
“Wenn schon, denn schon. Und einen Roman drüber-schreiben...”
“...hieße den Idioten mehr Bedeutung zumessen, als ihnen zusteht...”
“...schon, doch erhöht die Resozialisierungschancen ungemein, wenn beispielsweise Schrerd Göder und Kelmut Hohl von Mangela Erkel bei lebendigem Leibe gebraten und aufgefreßen werden und deren politisches Wissen nach der Verdauung in die Keramik pladdert...”
“...Du meinst eher ihr Unwissen...”
“...eh wurscht, doch Du, als mein Psychologe und Seelsorger...« er lächelte immer noch, schweigend. So entstehen Geschichten und Episoden.
Und Mewa saß immer noch mit ihrer Mutter und lauschte ihren Wortergüßen. Johannes hörte sie in der Kammer nebenan. Diddl träumte vor sich hin “Wach bitte cholte ich chonst tun...?”, er war oft Johannes Vorbild “Ich weich; ich bin Dein anderech Ego...”; und Johannes schrieb. Was auch immer; und sie waren ziemlich zufrieden. Weiberärsche bekucken, Texte schreiben, Bücher lesen, passiv funken und Bier trinken, mit der Muse Cervisiana, was wollten sie denn mehr? So wie es ist, ist es gut, ultragut sogar.
“Ich denke, es ist Zeit fürs Bett, der Mückenhunger wartet schon, heutemorgen sah ich aus wie Quasimodo in seinen besten Tagen... Ein derartiges Gesicht erspart mir am Sonntag den Besuch der Idiotenhochzeit und ich muß nicht einmal mit Doofmarie, Horrmonika und Agi etc. kommunizieren: Glückes Geschick Tirili!” flüsterte er leise und Diddl grinste ihm zu.
Er hatte den Stift gewechselt, es erschien ihm ratsamer, manchmal hatte er das Gefühl, die Hexen Doofmarie und Flutschen kontrollierten, vielleicht gehörte auch schon Natascha: na, Tascha? dazu, doch da sollte man als Mann drüberstehen! wußte auch Diddl und saß standhaft seinen Mann auf seinem Schreibtisch.
Wer gibt sich schon den eigenen Waffen und insbesondere der eigenen Dummheit geschlagen? Nur Neurotiker...
»Nun, ich denke, dieser Tag ist gelaufen, ich laße die Beiden labern und verkrieche mich in die Federn. Warten wir also auf den morgigen Tag und seine Neuigkeiten... laßen uns überraschen und lauschen wir dem Rauschen der Blätter. Neue Träume, neue Erzählungen. Ein immer neuer Morgen! Was sonst? Voraus geht der Weg, der Erinnerungen trägt...« notierte er. Schon bald lag er, hörte ihr, eben Eiras unendlich sanftes Schnarchen, es war eher ein leises Wehen ihrer Lippen. Und es machte süchtig, sich neben sie zu legen, sich in ihre Wärme einzukuscheln und an ihrem Rücken zu lauschen. Manchmal fühlte er sich als Schuldiger, der Bücher produzierte, um einen Freispruch zu erlangen.

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