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Dragana Thibaut
Benjamin und sein wundersames Erbe


Taschenbuch Juni 2013
172 Seiten | ca. 14,8 x 21,0 cm
ISBN: 978-3-86468-436-4
ISBN (E-Book): 978-3-86468-441-8



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Benjamin ist auf den ersten Blick ein ganz normaler Junge. Was er lange selbst glaubt, bis ihm unerklärliche Dinge widerfahren. Mit der Zeit findet er heraus, dass er ein Feenmeister ist. Nicht nur das, er hat auch eine besondere Aufgabe. Er muss seine Mutter aus den Fängen der schwarzen Fee Araxa befreien. So begibt er sich mit seinem besten Freund Max und seiner kleinen Schmetterlingsfreundin Bim in die aufregenden Abenteuer.
Benjamin

und sein wundersames Erbe

Inhalt

Kapitel 1 – Der Geburtstagswunsch 5
Kapitel 2 – Das Wort „verrückt“ 21
Kapitel 3 – Unheimliche Frau Schnarrer 29
Kapitel 4 – Der Denkzettel 41
Kapitel 5 – Das Geheimnis 59
Kapitel 6 – Der Weg ins Feenreich 69
Kapitel 7 – Das Ziel Tante Genofeva 77
Kapitel 8 – Benjamins Feenfamilie 89
Kapitel 9 – Der Ernst beginnt 105
Kapitel 10 – Die Kensern 113
Kapitel 11 – Hederas 127
Kapitel 12 – Der Umweg 133
Kapitel 13 – Die Begegnung 155
Kapitel 14 – Der Kampf 161
Kapitel 15 – Der Geburtstagswunsch 171




Kapitel 1 – Der Geburtstagswunsch

„Benjamin?! Beeeeenjaaaaaaamiiiiin?!“, hörte Benjamin ganz dumpf, wie durch einen dichten Nebel.
„Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du bei Einbruch der Dunkelheit im Haus sein sollst?“, erkannte Benjamin nun seinen Vater, und schon hob der ihn hoch. Dabei klemmte er Benjamin wie einen Fußball unter seinen Arm, sodass Benjamins Kopf inklusive Beine im Laufrhythmus mitwippten.
„Ich muss wohl im Stall eingeschlafen sein“, murmelte Benjamin vor sich hin und empfand es als sehr schade, dass er sein Strohbett verlassen musste, denn das war mehr als bequem.
„Weißt du, was alles hätte passieren können?“, unter-brach die tiefe Männerstimme seines Vaters seine Gedanken, und schon zählte der mögliche Gefahren auf. Doch Benjamin hörte gar nicht mehr hin. Stattdessen hob er den Kopf und blickte nochmals zu seinem Strohbett und dem wundervollen Pferd, welches daneben stand. Er war so froh, dass seine Großmutter dieses Tier hatte. Immer, wenn Benjamin bei ihr war, verbrachte er fast jede freie Minute bei der Stute, die den Namen „Wolke“ trug. Er versank regelrecht in ihren treuen, dunklen Augen und bewunderte jedes Mal aufs Neue die herrliche Schimmelmusterung.
Gerade wollte er den Kopf wieder senken, da passierte etwas völlig Unmögliches. Ihm war so, als hätte ihm Wolke zugezwinkert. Benjamin riss seine Augen so¬ weit wie möglich auf. Er traute seinen Augen nicht. Zur Sicherheit rieb er sich das ganze Gesicht. Da! Sie tat es noch mal. Doch genau in dem Moment ging sein Vater mit ihm zur Stalltür hinaus. Benjamin wehrte sich laut-stark: „Papa, Papa, geh noch mal zurück! Bitte!“
Doch all sein Flehen brachte nichts. Sein Vater ließ sich nicht beirren. „Du kannst morgen wieder zu Wolke gehen, für heute ist es genug, Benjamin.“ Das sagte er in jenem Tonfall, bei dem Benjamin genau wusste, dass jeglicher Widerstand zwecklos war. Also senkte er seinen Kopf und ließ sich gehorsam ins Haus tragen.

Seine Großmutter erwartete ihn in der Küche mit einem Lächeln. Rasch befreite sie sich von ihrer Schürze, zupf-te sich ihre grauweißen Haare zurecht und streckte die Arme nach ihm aus.
Benjamin riss sich von seinem Vater los, rannte gleich in ihre Arme und drückte seine Großmutter so fest er nur konnte. „Oma, wo warst du denn?“, wollte er gleich wissen. „Als wir heute angereist sind, konnte ich dich nirgends finden“, informierte er sie umgehend.
„Ich war spazieren“, sagte sie und strich ein paar Strohhalme aus seinen Haaren, bevor sie weitersprach. „Schließlich hattet ihr euch erst für morgen angekündigt.“ Mit diesem Satz richtete sie einen strengen Blick auf ihren Sohn.
Benjamins Vater rieb sich den Nacken. Das tat er immer, wenn ihm eine Situation sichtlich unangenehm war. Er räusperte sich kurz, bevor er eine Erklärung abgab: „Tut mir leid, Mutter! Ich konnte meine Arbeit etwas früher beenden, und so entschloss ich mich spontan loszufahren. Ich wollte noch von unterwegs anrufen, doch dann gab mein Akku den Geist auf.“
Mit einem Nicken nahm sie die Entschuldigung ihres Sohnes an und wandte sich wieder ihrem Enkel zu. „Mein lieber Junge, lass dich anschauen.“ Schon war sie dabei, Benjamin in Position zu rücken, damit sie sich ein besseres Bild machen konnte. „Groß bist du geworden! Wenn du so weitermachst, wirst du noch so groß wie dein Vater.“
Benjamin blickte hoch zu seinem Vater. Klein war der wirklich nicht. Vielleicht würde er selbst tatsächlich eines Tages so groß sein, dann hätte er zumindest sonst noch etwas von ihm, und nicht nur die dunkelblonden Haare.
„Sag, hast du Hunger, mein Schatz?“, wollte seine Großmutter wissen.
Benjamin musste gar nicht selbst antworten, denn als ob sein Magen wusste, worum es ging, knurrte dieser wie auf Kommando.
Seine Großmutter nickte wohlwollend. „Aaahh, alles klar, dann schlage ich vor, dass ihr schnell auspackt, und in der Zwischenzeit richte ich uns ein leckeres Abendbrot.“
Das musste sie kein zweites Mal sagen. Ihre Männer drehten sich auf dem Absatz um und schritten zur Tat.

Beim Essen erzählten und amüsierten sich alle köstlich. Es war eine richtig ausgelassene Stimmung. Benjamin betrachtete seinen Vater. Es war selten geworden, dass dieser so zufrieden schien. Er lachte kaum noch, seit Benjamins Mutter verschwunden war. Über ihr Verschwinden durfte auch nie gesprochen werden. Genau genommen wusste Benjamin so gut wie nichts darüber, nur dass seine Mama seit fünf Jahren wie vom Erdboden verschluckt war.
Benjamin konnte nicht länger innehalten und fing wieder mit der gleichen Bettelei an: „Ach, Paps, können wir nicht für immer bei Oma bleiben? Dir gefällt es doch hier auch am allerbesten.“
Die Gesichtszüge seines Vaters wurden schlagartig ernst. „Junge, Kind, das hatten wir doch bestimmt schon tausend Mal.“ Er machte eine kurze Pause, bevor er weitersprach. „Wir müssen dort leben, wo ich Arbeit habe. Ich weiß, dass das nicht immer einfach ist. Aber das Leben ist nun mal kein Wunschkonzert.“
Betrübt schaute Benjamin zu Boden. Er kannte die Grün-de nur allzu gut. Sein Vater war ein erfolgreicher Naturschützer. Insbesondere engagierte er sich dafür, dass so wenig Land wie möglich für industrielle Zwecke kaputt gemacht wurde. Dies hatte zur Folge, dass sie ständig umherreisten. Es war immer das gleiche, traurige Spiel: Kaum hatte Benjamin sich an einen Ort gewöhnt oder sogar Freundschaften geschlossen, zogen sie weiter.
Nach diesen Sätzen starrte jeder still in die Luft, keiner fühlte sich dazu animiert, zu diesem Gespräch noch etwas beizutragen. Das Schlagen der Standuhr war eine regelrechte Erlösung.
„Es ist spät geworden“, seufzte die alte Dame. „Zeit fürs Bett.“
Gähnend stimmte Benjamin ihr zu.
Da stand sie auf und drückte ihrem Enkel einen Kuss auf die Stirn mit den Worten: „Geh nach oben, mein Großer, dein Bett erwartet dich bereits.“
Benjamin stand auf, wünschte eine gute Nacht und schleppte sich die Treppe hoch in sein Zimmer. Sein Schlafanzug lag schon bereit und er streifte ihn sich über, bevor er halb schlafend zum Zähneputzen ging. Schnell befand er sich im Traumland, denn der Tag war wirklich lang und anstrengend gewesen.

Mitten in der Nacht wachte Benjamin auf, ihm war heiß und kalt zugleich. Er drehte sich von der einen zur an-deren Seite mit dem Wunsch, gleich wieder einzuschlafen. Doch er vernahm Stimmen. Er öffnete die Augen, da sah er Licht durch den Türschlitz schimmern. Behutsam stand er auf und öffnete langsam die Tür. Tapsend bewegte er sich zum Treppengeländer, dort ging er in die Hocke, hielt sich an den Geländerstangen fest und blickte hinunter. Sein Vater und seine Großmutter standen unten in der Diele. Sie zischten sich mit angespannten Gesichtern an. Zuerst konnte Benjamin gar nichts verstehen, erst als sein Vater seine Großmutter an den Schultern packte und dabei lauter wurde, hörte er seinen Vater:
„Hast du Tante Genofeva getroffen? Du hast sie getroffen, nicht wahr? Lebt meine Liebste noch? Bitte, das ist vielleicht unsere letzte Chance!“
Die Großmutter holte tief Luft: „Beruhige dich, Siegesmund. Ja. Sie lebt noch. Das ist das Wichtigste, doch sie muss wohl sehr schwach geworden sein. Ihre Energie ist für unsere Verbündeten kaum noch wahrnehmbar. Meine liebe Schwägerin Genofeva ist besorgt um den Jungen. Wir müssen mehr denn je auf ihn aufpassen. Genofeva ist überzeugt, dass er das ‚Erbe‘ in sich trägt. Sollte dem so sein, so kann es nicht mehr lange dauern, bis sich die ersten Anzeichen zeigen. Ach, Siegesmund, ich bin so besorgt um unseren kleinen Benjamin.“
Benjamins Vater legte sein Gesicht in seine Hände und schüttelte dabei den Kopf. So hatte Benjamin ihn noch nie gesehen.
Seine Großmutter öffnete die Wohnzimmertür: „Komm, Siegesmund, lass uns in Ruhe weiterreden.“ Mit diesen Worten verschwanden die zwei im Wohnzimmer.
Die eben gehörten Gesprächsfetzen brachten Benjamin völlig durcheinander. In seinem Kopf hämmerten tausend Fragen. Wer war Tante Genofeva? Soweit er wusste, gab es keine lebenden Verwandten mehr. Seine Gedanken überschlugen sich, ihm wurde regelrecht schlecht. Er überlegte: Sprachen die etwa von Mama? Das würde ja bedeuten, sie wüssten, wo sie ist. Vielleicht bei dieser Tante? Was für ein Erbe soll ich in mir tragen? Die sprachen doch von mir, oder? Ja. Oma sagte ganz deutlich, sie würde sich Sorgen um mich machen. Aber warum?
Benjamin saß wie angewachsen auf der ersten Stufe und ließ seinen Blick ohne Ziel in der Diele umherschweifen. Er betrachtete das Bücherregal, den alten Ledersessel, die Risse im Leder des Sessels, dann schaute er zum Türrahmen, zu der Petersilie.
Petersilie? Der ganze Raum, nein eigentlich das ganze Haus, war behangen mit Petersilie. Seitdem er denken konnte, trocknete seine Großmutter Petersilie, aber so extrem war ihm das noch nie aufgefallen. Insbesondere waren die Türrahmen damit behangen. Er liebte seine Oma sehr, doch er hasste den fürchterlichen Petersilientee, den er immer trinken sollte. Seit einigen Jahren stellte seine Großmutter sogar Petersilienbonbons her, die er ebenso grauenhaft fand.
Plötzlich ging unten wieder die Tür auf. Benjamin erschrak, da er so vertieft in seine Gedanken war. Seine Großmutter nahm die Hand seines Vaters und sagte: „Mein lieber Sohn, uns bleibt nichts anderes übrig, als erst mal abzuwarten. Trotz all der Sorgen habe ich Hoffnung, und womöglich ist unser Junge stärker, als wir es uns vorstellen können. Vergiss nicht, wer dein Vater und somit sein Großvater war und wer seine Mutter ist. Du weißt selbst nur zu gut, wie mächtig die zwei Familien sind. In dieser ganzen Reihe bin nur ich die Normal-sterbliche. Ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass du keine Kräfte hast, weil da noch jemand seine Finger im Spiel hat, und nicht, weil meine Gene in dir überwiegen.“
Siegesmund strich sorgenvoll die Hand durch sein Haar, bevor er seiner Mutter eine gute Nacht wünschte. „Schlaf schön, ich werde jetzt zu Bett gehen. Ich bin so müde, so unendlich müde. Seitdem meine geliebte Lavendula verschwunden ist, schlafe ich nicht mehr richtig. Nur wenn ich vor Erschöpfung nicht mehr stehen kann, gelingt es mir, ein paar Stunden Ruhe im Schlaf zu finden.“
Benjamin huschte in sein Zimmer. Er wollte nicht, dass die zwei ihn entdeckten, denn er wusste genau, dass das Gehörte nicht für seine Ohren bestimmt war. Mit einem Satz sprang er ins Bett und deckte sich zu. Sein Herz klopfte ihm bis zum Hals. Jetzt wusste er, dass es um seine Mutter ging, weil sein Vater sie bei ihrem Namen genannt hatte – Lavendula. Damit die Verwirrung komplett wurde, fiel ihm ein, was er vorhin mit Wolke erlebt hatte. Was hatte das alles nur zu bedeuten? Er zermarterte sich das Hirn und schlief darüber ein.

Am nächsten Morgen küssten ihn warme Sonnenstrahlen wach, worauf er tiefer unter die Decke kroch. Doch dann roch er sie schon, die besten Pfannkuchen der Welt. Im Sauseschritt zog er sich an und vollzog eine Katzenwäsche, um so schnell wie möglich zu den Pfannkuchen zu gelangen. Unten in der Küche angekommen, fand er einen köstlich gedeckten Frühstückstisch. Es war aber niemand da.
Auf seinem Teller lag ein Zettel: „Lieber Benjamin, wir sind in den Lebensmittelmarkt gefahren, um einige Besorgungen zu erledigen. Dauert nicht lange! Deine Oma.“
Während er den Zettel las, verdrückte er schon den ersten Pfannkuchen. Den noch dampfenden Petersilientee goss er in den Abfluss und füllte die Tasse mit Limo. Nach dieser Stärkung ging er gleich auf die Koppel zu Wolke.

Wolke stand ganz ruhig und gelassen da. Man konnte sich fast einreden, dass sie auf Benjamin gewartet hatte, denn als er auf sie zulief, begrüßte sie ihn mit mehrfachem Kopfnicken. Die Möhren, die er dabeihatte, verspeiste sie umgehend.
„Meine liebe Wolke“, sprach Benjamin die Stute an. „Hast du mir gestern zugezwinkert?“
Das Pferd kaute teilnahmslos.
„Gib mir doch Antwort oder zumindest ein Zeichen.“
Da vernahm Benjamin hinter sich eine bekannte Stimme: „Mann, Mann, Mann, Benjamin, dir ist schon klar, dass da ein Gaul vor dir steht?“
Freudig drehte er sich um, damit er seinen besten und wahrscheinlich einzigen Freund Maximilian Brun begrüßen konnte. „Mensch, Max, wie schön, dich zu sehen!“
„Ebenso“, gab dieser cool von sich, grinste und stupste Benjamin freundschaftlich an, bevor er weitersprach: „Mann, Mann, Mann, manchmal zweifel ich schon an dir. Komm mit mir zum Teich, bevor du hier weiter den armen Gaul bedrängst. Ich hab da ein paar Kaulquappen entdeckt. Die können zwar auch nicht sprechen, sind jedoch trotzdem ganz interessant.“
Beide lachten über die Anmerkung und begaben sich auf den Weg.
Max war natürlich voll ausgerüstet. In seinem Rucksack befanden sich ein großes Glas, ein Köcher, eine Lupe und, nicht zu vergessen, etwas zum Essen. Max hatte immer Hunger und aß am liebsten pausenlos. Dabei sah er gar nicht danach aus. Im Gegenteil, er war sehr dünn, fast dürr. Wenn er ein Stück Brot kaute, wusste jeder genau, wo sich der Happen befand, denn an dieser Stelle beulte sich seine Wange deutlich aus. Ein bisschen erinnerte Max Benjamin an einen Igel. Er hatte kurze borstige Haare und eine lange dünne Nase, die sich unter Umständen ganz lustig bewegte. Die Nase hatte er von seinem Vater. Benjamin musste immer aufpassen, dass er nicht laut losprustete, wenn er Herrn Brun sprechen sah. Automatisch fiel ihm auch Frau Brun ein. Klein, mollig, die Haare immer leicht wirr, aber trotzdem adrett. Sie war eine sehr liebevolle und fürsorgliche Mutter. Es musste sehr schön sein, eine Mutter zu haben. Benjamin hing diesem Gedanken einen Moment lang nach, denn während er die Familie Brun vor Augen hatte, wurde ihm bewusst, dass er sich an seine Mutter nur noch schemenhaft erinnern konnte. Es fiel ihm schwer, ihr Gesicht vor sein geistiges Auge zu holen. An was er sich jedoch genau erinnern konnte, war ihr einzig-artiger Geruch. Er würde diesen unter Hunderten heraus-filtern. Auch ihre Berührungen fehlten ihm. Wenn er sie beschreiben müsste, so würde er sagen: „Mama hat die weichsten Hände der Welt.“
„Halllooooooo!“, wurde er aus seiner Melancholie gerissen. „Erde an Wasser! Mann, hörst du mir überhaupt zu?“, empörte sich Max.
„Entschuldige, Max, ich wollte nicht unhöflich sein. Übrigens heißt es ‚Erde an Jupiter‘“, korrigierte Benjamin ihn.
„Na, wie dem auch sei. Bitte reiche mir den Köcher“, wiederholte Max seine Anweisung, denn mittlerweile waren sie am Teich angelangt. Mit Freude assistierte Benjamin und schaute interessiert zu, wie Max eine Kaulquappe nach der anderen herausfischte und diese in sein Glas verfrachtete. Eine Weile schwiegen sie, bevor Max wissen wollte, welchen Geburtstagswunsch Benjamin hatte.
„Geburtstagswunsch“, läutete es in Benjamins Kopf. Ihm waren seine Geburtstage fast gleichgültig geworden. So zuckte er nur mit den Schultern.
Max konnte sein Entsetzen nicht verbergen. „Mensch, Benjamin, das ist ja wohl nicht dein Ernst! Dein zehnter Geburtstag ist in ein paar Tagen. Das ist ein besonderer Geburtstag, von da an sind all deine Geburtstage zwei-stellig. Mann, Mann, Mann aber auch! Muss ich mir etwa auch noch überlegen, was du dir wünschen sollst? Also auf jeden Fall brauchst du eine Schokoladentorte – oder am besten gleich zwei – eine für dich und eine für mich. Vielleicht sollte die zweite Torte aber doch keine Schokoladentorte sein, sondern lieber eine Bananentorte oder sogar eine Erdbeer... ne, ne, lieber keine Erd¬beertorte, obwohl ...“
Während Max von den Torten träumte, verstaute er seinen Fang im Rucksack, Benjamin hingegen stand nur da und schwieg. Zum ersten Mal überlegte er sich, was er sich wirklich wünschen sollte. Doch egal was ihm auch einfiel, es erschien ihm sinnlos.

Max quasselte den ganzen Rückweg über. An der Straßengabelung verabschiedeten sie sich voneinander. Benjamin ging langsam den Zaun entlang Richtung Tor. Da sah er zwei Nachbarinnen stehen. Frau Schnarrer und Frau Horn. Die beiden waren die unangenehmsten Erscheinungen des ganzen Dorfes. Bei Frau Schnarrer hatte alles irgendwie Überlänge. Sie war sehr schlank und groß, speziell die Arme und Beine waren dünner und länger als normal. Ihr ganzes Gesicht war alles andere als einladend. Es war geprägt von einer spitzen Nase mit schmalen Lippen und sehr buschigen Augenbrauen. Das Seltsamste an dieser Frau war, dass sie immer lange, schwarz glänzende Handschuhe trug.
Frau Horn hingegen sah aus wie ein Klotz. Groß und breit mit einem riesigen Kopf. Sie ging nie außer Haus ohne ihr Hütchen, welches vier Nummern zu klein war. Benjamin schluckte, da die Damen direkt vor dem Ein-gang standen und er sich somit bemerkbar machen musste, um nach Hause zu kommen. Je näher er kam, desto besser sah er, wie Frau Schnarrer mit spitzem Mund und wild fuchtelnd auf Frau Horn einredete, während Frau Horn die ganze Zeit ein „Oooohhh“ und „Aaaaah“ nach dem anderen von sich gab. Er stand nun genau vor ihnen, doch die Nachbarinnen waren so beschäftigt mit Schnattern, dass sie ihn gar nicht wahrnahmen. Ungewollt hörte er dem Gespräch zu.
„Frau Horn, haben Sie schon vernommen, dass Anna Petersen seit gestern nicht allein ist? Ihr Sohn Siegesmund ist mal wieder mit Enkel Benjamin angereist. Erinnern Sie sich noch, vor etwas mehr als zehn Jahren, kurz bevor der Enkel geboren wurde, verstarb sein Großvater Peter Petersen. Angeblich soll es ein Reitunfall gewesen sein, doch das glaube ich nicht. Wenn Sie mich fragen, hatte Anna Petersen was damit zu tun. Die Alte ist sowieso nicht ganz dicht. Schauen Sie sich doch nur mal den Gemüsegarten an, mehr als die Hälfte besteht aus Petersilie. Dann dieses komische Verhältnis zu diesem Pferd. Stellen Sie sich vor, die hat im Stall einen Tisch mit Stühlen und isst dort oft zu Abend. Das kann ich von meinem Schlafzimmerfenster aus genau sehen. Dabei ist dieser Gaul gemeingefährlich. Gut gemeint habe ich es und brachte ihm ein paar Möhren. Doch dieses Vieh schnappte nach mir und wollte mich beißen. Meiner Meinung nach sollte das Tier eingeschläfert werden“, lästerte Frau Schnarrer ungeniert, worauf Frau Horn entgegnete:
„Ooooh, was Sie nicht sagen, das werde ich umgehend in der nächsten Singstunde weitererzählen, schließlich sollen alle wissen, mit wem wir es in der Nachbarschaft zu tun haben.“
Benjamin traute seinen Ohren nicht.
Doch dann setzte Frau Schnarrer noch eins obendrauf: „Verrückt, sage ich Ihnen, die ganze Familie ist verrückt. Schauen Sie sich doch den Vater an, der reist die ganze Zeit in der Weltgeschichte herum. Es wäre ja ein Wunder, wenn der Junge da keinen Schaden nehmen würde. Wissen Sie noch, vor etwa fünf Jahren ist doch seine Mutter verschollen. Glauben Sie mir, die ist nicht verschollen, die hat es mit dieser verrückten Familie nicht mehr ausgehalten und hat sie einfach verlassen.“
Benjamin durchzog ein tiefer Schmerz. Sein ganzer Kör-per verkrampfte sich. Tränen brannten in seinen Augen, als er auch noch den zufriedenen Gesichtsausdruck von Frau Schnarrer sah.
„Sie lügen!“, schrie er aus vollem Leibe. „Das ist alles gelogen. Das ist alles eine Lüge!“
Die zwei Frauen schauten ihn gefühllos an. Da schob er beide mit all seiner Kraft zur Seite und rannte ins Haus. Die Nachbarinnen empörten sich und hießen ihn einen ungezogenen Flegel. Aber Benjamin hörte nicht darauf. Stattdessen bohrte sich das Wort „verrückt“ in sein Hirn. Im Haus ließ er seinen Tränen freien Lauf. Er eilte die Treppe hinauf und überrannte dort fast seine Großmutter. Im Zimmer angekommen, warf er die Tür hinter sich mit voller Wucht zu. Weinend legte er sich ins Bett und zog die Decke über den Kopf. Da ertönte ein behutsames Klopfen.
„Lass mich allein“, schluchzte er zur Tür hin.
So leicht ließ sich seine Großmutter jedoch nicht ab-wimmeln. Sie klopfte nochmals und fragte mit ganz ruhiger Stimme, ob sie eintreten dürfe. Benjamin presste ein „Ja“ heraus und wartete ab.
Seine Großmutter trat langsam ein, setzte sich aufs Bett und zog vorsichtig die Decke weg. „Schatz, komm, beruhige dich und setz dich neben mich“, bat sie.
Benjamin zögerte für einen kurzen Moment, bevor er ihrer Bitte nachkam.
„Willst du mir nicht sagen, was passiert ist?“, fragte sie schließlich.
Benjamin zuckte mit den Schultern, seufzte tief, wischte mit den Handrücken die verbliebenen Tränen ab und entschloss sich, doch zu berichten: „Draußen vor dem Tor standen Frau Schnarrer und Frau Horn. Die gaben nur Böses von sich, dass wir alle verrückt seien und dass du schuld seist an Opas Tod und dass man Wolke einschläfern müsse und ... und ... dass Mama freiwillig gegangen sei, weil wir alle verrückt seien.“ Beim letzten Teil des Satzes fing er wieder an zu weinen. „Stimmt das, Oma? Sind wir wirklich verrückt? Glaubst du, Mama hat uns absichtlich verlassen? Lebt sie nun bei dieser Tante Genofeva?“
Benjamin hatte jetzt mehr verraten, als er wollte. Er schaute seine Großmutter mit großen Augen an und war gespannt auf ihre Reaktion.
Anna Petersen zuckte regelrecht zusammen, als sie den Namen ihrer Schwägerin aus Benjamins Mund hörte. Sie ging jedoch nicht weiter darauf ein, sondern sprach mit ruhiger Stimme: „Kind, deine Mutter hat dich und deinen Vater über alles geliebt, sie hätte euch niemals – niiiemals! – im Stich gelassen. Es gibt zu Lavendulas Verschwinden eine Geschichte. Die werden wir dir auch bald – wahrscheinlich sehr bald – erzählen. Nur nicht jetzt! In Ordnung, Benjamin?“
Benjamin nickte. Er senkte den Kopf und flüsterte kaum hörbar: „Oma, ich glaube, ich bin wirklich verrückt, ich kann mich fast nicht mehr an Mama erinnern. Ihr Gesicht, ich weiß nicht mehr, wie sie aussieht. Wenn wir doch nur ein Foto hätten, warum gibt es denn keine Fotografien von ihr?“
Benjamins Großmutter schob ihren Zeigefinger unter sein Kinn und hob langsam seinen Kopf, bis er sie ansah. Sie lächelte ihn an und nahm ihn an der Hand: „Komm mal mit, ich habe da eine Idee.“ Sie führte ihn ins Bad, direkt vor den großen Spiegel. Dann beugte sie sich zu ihm hinunter und hauchte ihm ins Ohr:
verfasst von Ralf am 19.01.2014:BewertungssternchenBewertungssternchenBewertungssternchenBewertungssternchenBewertungssternchen
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