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Reingard Stein
alles freiwillig
Sechs Monate auf dem Jakobsweg

Taschenbuch März 2014
358 Seiten | ca. 12,8 x 19,2 cm
ISBN: 978-3-86468-673-3
ISBN (E-Book): 978-3-86468-679-5



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Unseren großen Traum, zu Fuß von Hamburg nach Santiago de Compostela zu gehen, den verwirklichten wir im Jahr 2012. Wir wählten die Route entlang der französischen Via Lemovicensis und der spanischen Biskaya-Küste. Unser Weg führte vorbei an vielen geschichtlichen Stätten Deutschlands, Frankreichs und Nordspaniens. Außerdem erlebten wir auf dem Pfad häufig großartige Gastfreundschaft. „Ist alles freiwillig“, mit diesem Satz motivierten wir uns so manches Mal zum Weiterlaufen, wenn die Bedingungen besonders schwierig wurden. Unser Durchhaltevermögen wurde immer wieder aufs Neue mit den herrlichsten Landschaftsbildern belohnt.
Strecke:
Deutschland: Hamburg, Wedel, Lühe, Harsefeld, Heeslingen, Otterstedt, Bremen, Oldenburg, Vechta, Osnabrück, Werne, Dortmund, Köln, Bad Münstereifel, Prüm, Echternach (L), Trier, Perl
Frankreich: Metz, Nancy, Colombey-les-Deux-Églises, Chablis, Auxerre, Vézelay, Nevers, Saint-Amand-Montrond, Gargilesse, Limoges, Perigueux, Orthez, St.-Jean-Pied-de-Port, Hendaye
Nordspanien: Irún, San Sebastián, Gernika, Bilbao, Castro-Urdiales, Santander, Llanes, Gijón, Luarca, Ribadeo, Vilalba, Arzúa, Santiago de Compostela
Ein Phänomen der besonderen Art, das ist der “Caminofunk”. Wie dieses “Nachrichtensystem” nun wirklich funktioniert, vermag ich selbst nach einigen Wanderungen auf den Caminos nicht zu sagen. Der Einsatz von mobilen Telefonen ist nicht unbedingt nötig, aber hilfreich. Die Nachrichtenübertragungen klappen in beide Richtungen, so ist man immer über Neuigkeiten informiert, was vor oder hinter einem passiert. Der Caminofunk transportierte nicht nur Klatsch und Tratsch, sondern auch brauchbare Informationen wie beispielsweise über geschlossene oder unpassierbare Wege.
Im Baskenland lernten wir Anfang September einen jungen Dänen kennen, der ein sehr anspruchsvolles Ziel hatte. Er wollte die 860 Kilometer nach Santiago bis Ende September erreicht haben. Nun, wir fanden, er hatte sich sehr viel vorgenommen, diese Strecke innerhalb von drei bis vier Wochen zu bewältigen, unmöglich ist es nicht für einen so jungen, sportlichen Kerl, er muss nur eine durchschnittliche Tagesleistung von 35 Kilometern wandern. Viel sehen und erleben wird er nicht bei dieser Streckenvorgabe und was unser junger Pilger bei seiner ehrgeizigen Planung nicht berücksichtigt hatte, war die holde Weiblichkeit! In seinem Fall in Gestalt einer jungen attraktiven Kalifornierin! Und seine Angebetete hatte die Ruhe weg! Wir trafen die beiden vor Markina-Xemein bei einer Pause in den Bergen, er scharrte schon unruhig mit den Füssen, denn er wollte weiter, sie unterhielt sich angeregt mit uns und verspeiste noch in aller Ruhe ein Bocadillo. Unseren kanadischen Wegbegleitern Jill und Kit waren diese dänisch-amerikanischen Annährungsversuche auch nicht verborgen geblieben und so schlossen wir schon Wetten darüber ab, wer gewinnt, die Hormone oder der sportliche Ehrgeiz. Eigentlich ist die ganze Sache doch sonnenklar, selbstverständlich gewannen die Hormone! In der Herberge von Santander trafen wir unseren jungen Dänen wieder, er hatte seine Ankunft in Santiago um ein Jahr verschoben!
Der Fußweg von Santander bis Santillana del Mar beträgt 38,5 Kilometer. So viele Kilometer an einem Tag wollten wir ohnehin nicht laufen. Da passte es sehr gut ins Bild, dass wir einen Teil der Strecke mit Verkehrsmitteln zurücklegen wollten. In Bilbao hatten wir die Großstadt per Taxi vermieden und hier in Santander wollten wir das Großstadtgewusel per Regionalbahn hinter uns lassen. Vor der Gefahrenstrecke zwischen Bóo und Mogro waren wir gewarnt und so entschlossen wir uns, von Santander aus gleich bis Mogro, vor die Tore der Stadt zu fahren. Unsere Route verlief hier im Küstenhinterland und die ersten fünf bis sechs Kilometer führten uns durch eine hübsche Hügellandschaft. Das änderte sich bald darauf, denn unser Weg ging mehrere Kilometer an dem hässlichen Abwasserrohr einer Chemiefabrik, die Natronlauge und Soda produziert, entlang. Ich kann nicht genau sagen, welche „Stoffe“ dort in den kleinen Ausbuchtungen des Schwemmlandes versickerten. Weißliche bis gelbliche Flüssigkeiten waren in dem Boden eingesickert, hatten das Schilfgras regelrecht zugekleistert und es schien niemanden zu stören, die Leute gingen hier spazieren. Im Hintergrund stehen große Wohnblocks, ich denke mal für die Arbeiter in der Chemiefabrik. Diese unklaren Flüssigkeiten, die hässlich verunstaltete Natur, all das störte uns sehr und wir hätten uns gewünscht, dass wir mit der Regionalbahn noch ein paar Stationen weitergefahren wären.
Mit den Hässlichkeiten waren wir für diesen Tag noch nicht am Ende. Das Sträßchen laut Wanderführer, das uns zu unserem Etappenziel Santillana del Mar führen sollte, wurde gerade ausgebaut. Die kilometerlange Baustelle verhinderte, dass wir eine Pause machen konnten, denn die Bauarbeiter hatten jede sich bietende Eiche als Klo benutzt! Bis zu unserem Zielort waren die Spuren dieser Nutzung sicht- und riechbar. Da möchte niemand eine Rast einlegen, deshalb hatten wir uns darüber aufgeregt! So waren wir also schon „auf Krawall gebürstet“, als wir in Santillana del Mar eintrafen. Und weiter ging es mit den Aufregern. Vor der Herberge standen fünfzehn Rucksäcke rum und ein paar Leute dabei. Nein, diese Herberge sei fast vollständig belegt, nur noch ein Bett frei! So lautete die Auskunft. Das kann doch wohl nicht wahr sein, um kurz nach 15 Uhr ist die Herberge, die erst um 16 Uhr öffnet, bereits komplett belegt?! Wir waren total sauer, denn zu Fuß konnten diese Leute hier nicht eingetroffen sein, sonst hätten wir sie unterwegs gesehen.
Wir glauben, dass sich die Gepflogenheiten bezüglich der Herbergen in den letzten vier bis fünf Jahren geändert haben. Als wir 2007 und 2008 auf dem Camino Francés unterwegs waren, war es unmöglich, eine Übernachtung in der Herberge zu reservieren. In diesem Jahr stellten wir fest, dass einige Pilger eine Reservierung hatten. Vielleicht liegt der Grund darin, dass es auf den Jakobswegen inzwischen viele privat geführte Herbergen gibt und diese Leute schon aus wirtschaftlichem Interesse heraus Reservierungen zulassen. Beim Abendessen erzählte uns ein Franzose, er hätte in der lokalen Presse gelesen, dass die spanischen Arbeitgeber es gerne sehen, wenn ein Bewerber um einen Arbeitsplatz den Camino de Santiago gelaufen sei. Der Hintergrund sei folgender: Leute, die den Camino gelaufen sind, die haben bewiesen, dass sie was aushalten können und werfen die Flinte nicht so schnell ins Korn! Diese Haltung der Arbeitgeber veranlasst die jungen Leute dazu, sich einen Credencial zu besorgen und so fahren sie in Gruppen dann von Albergue zu Albergue und holen sich die Stempel für den Pilgerpass. Da der Küstenweg einen sehr hohen Freizeitwert hat, bietet sich so ein kleiner Urlaub zur Erlangung eines Arbeitsplatzes geradezu an. Bei der extrem hohen Arbeitslosenrate von spanischen jungen Leuten kann man es ihnen noch nicht einmal verdenken, dass sie so handeln. Ob das so klug ist?? Ich weiß es nicht, auf diese Weise jedenfalls führen sie das ganze System ad absurdum und dann nützt es niemanden mehr!
Wir waren wieder mit unserer Welt im Reinen. Gleich neben der Albergue kamen wir in einer Pension unter und der Übernachtungspreis war ganz moderat. Das ist für einen mittelalterlichen Ort wie diesen keine Selbstverständlichkeit. Scharenweise laufen hier die Touristen durch die schmucken Gassen mit den alten Palästen und Herrenhäusern, in denen zwischenzeitlich die hochpreisigen Hotels residieren. Wir ließen bei einem Glas Rotwein vor der Bar die Mittelalteratmosphäre auf uns wirken und schrieben ein paar Postkarten. Nach so viel Hässlichkeit an diesem Tag, da hatten wir uns doch einen genüsslichen Feierabend auf der Plaza Major in dieser schönen alten Stadt verdient.
Ganz in der Nähe von Santillana del Mar befindet sich die „Cueva de Altamira“. Diese Höhle mit 14.000 Jahre alten Höhlenmalereien kann von „normalen Sterblichen“ wie uns nicht besichtigt werden. Absolut sehenswert sei die Nachbildung der Höhle, so steht es im Handbuch, die für die interessierten Besucher geöffnet sei. Gerd und ich beschlossen, ganz darauf zu verzichten, denn wir hatten ja in Frankreich die Höhlen von Arcy-sur-Cure besucht. In der französischen Höhle sind 28.000 Jahre alte Originalzeichnungen zu sehen. Durch den Verzicht auf die Besichtigung der Nachbildung konnten wir uns voll auf den Weg konzentrieren, marschierten locker drauflos und kamen gut voran. Unterwegs trafen wir zwei Bielefelder Radfahrer, die ihr Rad gerade einen Berg hinaufschoben. Die hatten schon 1.200 Kilometer hinter sich, denn sie kamen von St.-Jean-Pied-de-Port aus über den Camino Francés nach Santiago und zurück fuhren sie über den Küstenweg zum Ausgangsort. Radler haben es sehr schwer auf der Nordroute, die Berge sind ungemein steil und manchmal unwegsam.
Laut Wanderguide war wieder eine Mammutstrecke von 34,5 Kilometern bis San Vicente de la Barquera vorgesehen und die darauf folgende Etappe hatte sogar 42 Kilometer bis Llanes. Da bietet es sich an, aus den zwei Buchetappen drei für uns reale, brauchbare Wanderetappen zu machen. So war das Etappenziel des Tages der Ort Comillas, nach 24 Kilometern. Herrlich, nach dieser Inlandsstrecke hatten wir wieder die Küste vor uns, denn Santillana del Mar liegt keineswegs, wie der Name suggeriert, am Meer. Und, wollten wir nicht immer schon mal in einem Gefängnis übernachten?! Die Neugierde ist groß, denn die Herberge von Comillas, „La Peña“, befindet sich in einem ehemaligen Gefängnis, im Jahr 1879 erbaut, oben über dem Ort. Vergitterte Fenster und der kleine Innenhof, Auslauf für Knackis, das erinnert noch an die frühere Nutzung. Ansonsten, wir durften ungehindert diesen Ort verlassen und wieder betreten, so, wie wir es wollten. Als Gefangener an diesem Ort? Das wäre sehr schade, denn die „Stadt der Erzbischöfe“ hatte im 19. Jahrhundert ein besonders prächtiges Aussehen erhalten. Fünf führende Kleriker hatten in Comillas das Licht der Welt erblickt, deshalb „Stadt der Erzbischöfe“. Und an der imposanten kunstvollen Gestaltung Comillas war unter anderen der Katalane Antoni Gaudí beteiligt.
Es war ein fürchterlich verregneter Tag, als wir die Picos de Europa erstmals so richtig bewusst wahrnahmen. Der Parque Natural de Oyambre breitete sich vor uns aus. Es war gerade Ebbe und bei Ebbe ist das Ría-Schwemmland bedeckt mit kleinen Wassertümpeln, Restwasserlachen und Prielen, die sich durch das Wattenmeer winden. Grasbüschel, kleine Grasinselchen und stoppelige Pflanzenstiele bilden den Bewuchs der nicht überfluteten Gestade. In der Nähe des Atlantiks wird der schlickige Untergrund immer sandiger und das Flüsschen, das zusammen mit den Meereseinflüssen diese tiefe Bucht gebildet hat, entwässert ins Meer. Diese eindrucksvoll facettenreiche Küstenlandschaft ist nach Süden hin von den Picos de Europa eingerahmt. Die niedrigen küstennahen bewaldeten Berge konnten wir sehr gut erkennen, die höheren Gipfel waren in tiefhängende Regenwolken gehüllt. Dieses Gebirge wird für die nächsten Tage unser eindrucksvoller Panoramablick sein. Für diesen Tag waren wir von einem feinen Regenwasserschleier umhüllt, auch als wir die Ría de San Vicente de la Barquera auf der Puente de la Maza überquerten. Dies ist eine historische Brücke, die mit ihren 32 Bögen schon im Mittelalter zu den längsten Brücken Spaniens zählte. Die aktuelle Brücke stammt aus dem 18. Jahrhundert, zählt 28 Bögen und hat eine Länge von 500 Metern.
Eigentlich, eigentlich müsste man diese Hochgebirgswelt der Picos de Europa in Atlantiknähe gründlicher kennenlernen. Nachdem ich mich damit eingehender beschäftigt habe, könnte ich gleich wieder meine Wanderschuhe schnüren. Die Kalkmassive der Picos de Europa erstrecken sich über Gebiete der autonomen Gemeinschaften Kantabrien, Asturien und Kastilien-León. Kurz hinter der asturischen Küste beginnt der älteste Nationalpark Spaniens der „Parque Nacional de los Picos de Europa”. Im Laufe der Erdgeschichte wurde ein Kalkgebirge aufgefaltet, dessen höchster Gipfel der Torre de Cerredo mit 2.648 Metern ist. Wenn man von der Küste aus auf das Gebirge, auf die schroffen Felsen sieht, die dort den gesamten Horizont einnehmen, dann ist das schon beeindruckend. Die Seeleute haben diesem Gebirge den Namen “Gipfel Europas” gegeben, eine bessere Landmarke kann es für die Seefahrt gar nicht geben. Dieses Gebirgsmassiv hat außerdem Höhlen von gigantischen Ausmaßen, was Tiefe und Länge angeht. Bei einer dieser Höhlen, der Höhle von Covadonga, gab es vermutlich im Jahr 722 oder 718, da streiten die Gelehrten, eine Schlacht der Christen gegen die maurischen Besatzer Spaniens. Der erste asturische König oder vielleicht auch nur Fürst, auch diese Information liegt im Dunkel der Geschichte, mit Namen Pelayo errang den Sieg, seither gilt diese Schlacht als Beginn der Reconquista, der Rückeroberung Spaniens. Der Ort Covadonga beherbergt in einer Grotte ein Marienheiligtum und ist deshalb ein Wallfahrtsort, einige Pilger machen einen kleinen Abstecher hierher. Dieses Marienheiligtum soll es schon zu Zeiten Pelayos hier gegeben haben und die christlichen Kämpfer brachten ihren Sieg über die Mauren mit dem besonderen Schutz durch die Jungfrau in Verbindung. Für die Tier- und Pflanzenwelt bieten die Picos einen einzigartigen Lebensraum, der durch Biosphärenreservate geschützt wurde. Einigen bereits stark gefährdeten Tiergattungen, wie dem iberischen Wolf und dem europäischen Braunbär versucht man inzwischen optimale Lebensbedingungen zu ermöglichen. Wir haben in der Zwischenzeit so viele und so schöne Fotos der Picos gesehen, wir können es fast nicht mehr abwarten, dorthin zu fahren und diese Landschaft selber zu erleben. Dieses Mal waren wir leider nur “Zaungäste”!
Abgesehen davon, dass Regenwetter immer nervig ist, in diesem Fall war es ausgesprochen schade, dass es so nass und kalt war, wir hätten uns gerne mehr mit dem Ort San Vicente de la Barquera auseinandergesetzt. Aber, wir waren nass wie die Katzen und wollten letztendlich nur noch irgendwo im Trockenen sitzen. Kurz vor unserem Etappenziel Colombres bekamen wir noch eine sehr kräftige Dusche, damit sich durchtrocknen und aufwärmen so richtig lohnen. Als wir in diesem Dorf Colombres ankamen, hatten wir die Grenze von Cantabria zum Principado de Asturias überschritten. Schon die dritte Autonome Gemeinschaft auf spanischem Boden, auf unserem Weg nach Galicien, nahmen wir jetzt unter die Füße.
Im 19. und 20. Jahrhundert wanderten viele Menschen der armen nordspanischen Bevölkerung nach Übersee aus. Einige von ihnen machten in der Fremde tatsächlich ihr Glück und kehrten wohlhabend in das Vaterland zurück, um dort mit sozialen Projekten ihre Heimatregion zu unterstützen. Die aus Mittel- und Südamerika und dem Süden der USA Zurückgekehrten wurden im Sprachgebrauch der Heimat „Indianos” genannt. Wir hatten während unserer Wanderung durch Kantabrien schon des Öfteren die bunten Villen der „Indianos” bewundert, die durch ihre Farbgebung und die aufwändige Architektur besonders auffallen. Und in unserem Übernachtungsort Colombres gibt es die Fundación Archivo de Indianos, Museo de la Emigración, beherbergt natürlich von einer eindrucksvollen blauen Villa im Stil der „Casonas de Indianos”. Hier sind Dokumente und Gegenstände im Zusammenhang mit der Auswanderung gelagert und für Besucher zugänglich.
Als hätte nie ein Regentröpfchen diesen Himmel getrübt, so präsentierte sich das Land am nächsten Tag. Und Gerd und ich, wir hatten uns verlaufen! Irgendwo nicht richtig aufgepasst, wahrscheinlich von der bezaubernden Landschaft so in Anspruch genommen, mussten wir Hinweise übersehen haben. Wir hatten uns darüber gewundert, dass wir seit längerer Zeit niemanden mehr getroffen hatten und die Wegmarkierungen fehlten. Unser Pfad führte uns durch die Wälder steil hinauf in die Berge. Wie wir heute wissen, es war die „Sierra Plana de la Borbolla“. Dieser etwa 200 Meter hohe Gebirgskamm verläuft parallel zur Küste. Von dort oben hatten wir einen Traumausblick. Zur rechten Hand der schmale Küstenstreifen an der Biscaya, im leichten Dunst konnten wir die Dörfer und Straßen erkennen und hatten einen weiten Blick über das Meer und zur linken Hand die Picos de Europa, so nahe würden wir ihnen nicht wieder kommen. Das Kalksteinmassiv präsentierte sich in fast voller Schönheit, nur die Bergspitzen befanden sich in den Wolken. So viel landschaftliche Schönheit macht süchtig und wir sahen es überhaupt nicht ein, weshalb wir diesen wunderbaren Gebirgskamm verlassen sollten, solange wir dort oben einen Pfad vorfanden. Leider, dieser Saumpfad endete bei einer Straße, die über diesen Kamm ging und in großen Serpentinen hinunter an den Küstenstreifen führte. Nein, wir waren trotzdem immer noch nicht bereit, unsere Aussichtsloge zu verlassen. Ein paar Traktorenspuren zeigten uns an, dass wir auf diesem Bergrücken weiterlaufen könnten und das taten wir dann. Über ein paar Kuh-Weiden ging es noch so weiter und dann war Schluss! Ein elektrischer Weidezaun schützte das Vieh vor dem Absturz, denn das Gelände fiel hier steil ab. Ob wir nun wollten oder nicht, wir mussten nun unsere Aussichtsplattform verlassen. Wie man elektrische Weidezäune überwindet, das wussten wir, seit wir durch die Eifel stapften. Aber die steile Gefällstrecke behinderte auch uns. Wir pflügten durch das hüfthohe, pieksige Gras am Waldesrand auf der Suche nach einer geeigneten Stelle für den Abstieg und tatsächlich, wir fanden im Wald so etwas wie einen verwilderten und überwucherten Pfad. Wir nannten den unseren Jägerpfad, denn es ging durch das Unterholz in unserer grünen Hölle, vom Regenwasser waren die Steine glitschig, da hieß es verflixt aufpassen. Wir hörten es von überall her rascheln, wir waren nicht allein in diesen Bergen. Dass wir von vielen Augen aus dem Wald heraus misstrauisch beobachtet wurden, das waren wir gewöhnt. Nur, dass unsere langen Gegenstände, die wir mit uns führten, die Trekkingstöcke waren und keine Gewehre, das war der Unterschied, zwischen uns und den Jägern. Diese Trekkingstöcke mussten wir einige Male wie Macheten einsetzen, um uns das undurchdringliche Gestrüpp vom Leibe zu halten. Endlos, möglicherweise nur gefühlt endlos, ging es so den Hang hinunter, bis wir zu einer gewaltigen Abbruchkante kamen. Diese Abbruchkante war durch eine aktuelle Baustelle im Straßenbau entstanden und wir sahen zunächst keine Möglichkeit, wie wir nach unten zu dieser Baustelle gelangen sollten. Nach der niedrigsten Stelle suchten wir, und dann half nur noch hüpfen! Wie man halt so hüpft, leichtfüßig wie Elfen, oder die Tiere mit „E?“, mit einem zwölf-Kilogramm-Rucksack auf dem Rücken. Wir kannten es noch von den französischen Straßenbaustellen, man muss mit dem Baggerführer Sichtkontakt aufnehmen, damit der mitkriegt, dass da zwei Leute auf seiner Baustelle rumlaufen. Der Baggerführer war über unseren Besuch nur sehr mäßig erfreut, ebenso die Fahrer der Lastkraftwagen. Sie ließen uns passieren, in dem lockeren Erdreich versackten wir mit den Wanderstiefeln bis über den Schaft, aber, die Straße runter ins Tal war in greifbarer Nähe. Nun trennte uns nur noch ein Straßengraben! Rucksäcke runternehmen, über den Graben werfen, Anlauf nehmen und hinterher! So, das wäre geschafft! Aber, wie sahen wir bloß aus, zerkratzt, zerschunden, von Insekten zerstochen. Wir entfernten die Kletten aus unserer Kleidung, den Sand aus unseren Schuhen und setzten den Weg fort!
Unser kleiner Ausflug in die Welt der Berge hatte uns eine Punktlandung zu genau der Stelle beschert, an der sich der Abzweig zu den „Bufones de Arenillas” befindet. Die Bufones sind Brandungshöhlen. Bei starkem Seegang wird das Meerwasser mit dem hohen Druck der Brandung durch das löcherige Kalkgestein gepresst und erzeugt so geysirähnliche Wasserfontänen. Das hätten wir zwar gern erlebt, die Biscaya war an diesem Tag wohl zu friedlich für dieses Schauspiel. Mal ehrlich, visuell hatten wir für diesen Tag schon genug erlebt! Wir wanderten weiter über das struppig bewachsene Land auf den Klippen, durch Eukalyptuswälder und mussten doch tatsächlich wieder in die Tiefe steigen. In das ausgesprochen tiefe, tiefe Tal des Río Purón mussten wir hinab und nach der Brücke wieder hoch, so wird man fit gehalten auf dem Weg und es kommt keine Langeweile auf. Als wir dann von einem Aussichtspunkt aus eine herrliche Fernsicht auf unser heutiges Ziel Llanes hatten, sind wir dann nur noch zielstrebig draufzugelaufen. Kleine Exkursionen hatten wir an diesem Tag schließlich schon genug. Entzückendes Llanes, auf dem Weg zu unserer Albergue “La Estación”, in einem alten Bahnhof und direkt an der Bahnlinie, mussten wir die ganze Altstadt durchqueren.
Gerd schrieb ins Tagebuch: „Schöner, aber anstrengender Weg, meine linke Hüfte zickt, bin gestern im Regen wohl etwas kalt geworden!“

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